WM-Pur, Tag 7: Was fehlt Dima zu Boll?

Der Sportjournalist Jannik Schneider berichtet unter anderem für Deutschlands größte Sportseite spox.com live von der Tischtennis-WM in Düsseldorf. In seiner Kolumne WM-Pur berichtet er für Tischtennis Pur von seinen Erlebnissen rund um die erste Individual Heim-WM seit 1989 in Dortmund.

 

"Es gibt drei große Namen, die unseren Sport seit 1945 geprägt haben, das sind Eberhard Schöler, Jörg Roßkopf und Timo Boll. Allen drei ist der Kampfgeist, die Bescheidenheit und eine menschliche Anständigkeit gemein", erklärte Hans Wilhelm Gäb auf einer Zeremonien Tag 7 der WM vor dem gestrigen Boll-Match gegen Branchenprimus Ma Long.

Schöler, der zum ersten Ehrenkapitän des DTTB ernannt wurde, sei der Wegbereiter dafür gewesen. Es folgte ob der Worte Gäbs warmer Applaus für Schöler, aber ebenfalls für die beiden anderen genannten.

Keine halbe Stunde später lieferte der mittlerweile 36-Jährige Boll dem Chinesen im Viertelfinale dieser WM ein hochklassiges Match - es muss ihm allerdings wie eine sich ewig wiederholende eingelegte Kassette vorgekommen sein - zumindest beim späteren Handshake.

2:4 verlor er nach über einer Stunde Spielzeit, hatte die Nummer eins der Welt zumindest zum Wackeln gebracht. Nicht wenige behaupteten anschließend, er habe gar die bessere Tagesform gehabt. Doch Ma Long holte im letzten Satz ein 4:8 auf - auch das vielleicht einen Punkt zu spät genommene Timeout bei Roßkopf brachte den Olympya-Sieger und Weltmeister bei 7:8 nicht mehr aus der Spur.
Eine überragend gespielte parallele Vorhand bei 9:9 war die Vorentscheidung - wenig später saß Boll für seine Verhältnisse sehr enttäuscht im Coachingbereich. Denn auch er weiß: Die Chancen werden immer weniger.

 

Seit 2005 ist der Hesse Timo Boll bei einer WM mit einer Ausnahme jedes Mal gegen einen Chinesen ausgeschieden:

  • 2005 Achtelfinale Liu Guozheng (China) 3:4
  • 2007 Viertelfinale Ryu Seung-min (Korea) 0:4
  • 2009 Rückenverletzung
  • 2011 Viertelfinalsieg über Chen Qi (China), Halbfinale Zhang jike (China) 1 :4
  • 2013 Viertelfinale Ma Long (China) 2:4
  • 2015 Viertelfinale Fan Zhendong (China) 2:4


Die 0:4-Pleite 2007 gegen den Koreaner war damals eine große Überraschung und eine der wohl bittersten Niederlagen seiner Karriere. Die verpasste WM-Medaille sicherte er sich dann 2011 in Rotterdam. 2017 waren die Vorzeichen andere:
"Ich muss ehrlich zugeben, dass ich mich schon vor den olympischen Spielen in Rio damit abgefunden hatte, mit den besten Chinesen nicht mehr mithalten zu können", erklärte Boll in der Mixed-Zone. Dieses Spiel heute jedoch gebe ihm das Vertrauen, sich weiter quälen zu wollen.

Eine gute Nachricht an einem Tag, an dem Dimitrij Ovtcharov sein China-Duell verwehrt blieb. Er verlor zum vierten Mal bei einer WM im Achtelfinale, dieses Mal im Entscheidungssatz gegen Koki Niwa. Anschließend hörte ich beim Essen interessante Einblicke einer japanischen Trainerin, die sich mit einem Journalisten unterhielt. Dima habe zu oft die Diagonale gesucht - darauf habe der aufstrebende Japaner spekuliert und sei immer früh in Schlagstellung gewesen. Parallele Eröffnungen wären ihrer Meinung nach die bessere Lösung gewesen.

Nun gut, Fan Zhendong machte mit dem Ovtcharov-Besieger am Abend (1:4) kurzen Prozess. Was Dima hätte ausrichten können, im ersten Spiel, in dem er Außenseiter gewesen wäre? Was bleibt sind zwei deutsche Weltklassespieler mit konträrer Gefühlslage: Boll, der gefeierte Publikumsliebling, der den Besten der Welt fast geschlagen hätte und mit sich im Reinen sein kann und Ovtcharov, dem der selbstauferlegte Druck doch deutlich anzumerken war. Es ist eben ein Unterschied zwischen, zu sagen, man macht sich keinen Druck oder wirklich keinen Druck zu verspüren.

Ovtcharov, der ja bereits bei großen Events gesiegt hat, ließ das Medienaufkommen nach Spielende übersich ergehen - ratlos und mehr als geknickt.
Als ich gestern zum weit entfernten Parkplatz lief, musste ich an eine Verletzungspause von Ovtcharov vor mehr als einem Jahr denken. Als er zurückkam, brauchte er mehrere Monate, um sein altes, sehr hohes Level zurückzuerlangen. Nichts Besonderes, das ergeht vielen Sportlern so.

Bei Boll, der ja des öfteren verletzt war, habe ich das Gefühl, er benötigt anschließend drei Wochen Training, um auf Top-20-Niveau zu kommen und nochmal einen Monat und Spielpraxi mehr, um mit den Großen mithalten zu können.

So war es vor dieser WM: Er konnte nach überstandener Knieverletzung voll trainieren und dann auch noch genügend Matchpraxis sammeln inklusive Gewinn der Korea Open. Und so is Boll, und das ist die eigentliche Überraschung,  mit 36 noch immer ein China-Herausforder - dabei ist es die vierte Generation an Spielern, die er zum Duell herausfordert.

Für den ganz großen Wurf wird es aber nicht mehr langen. Deshalb bleibt zu hoffen, dass Ovtcharov sein Maximum weiter ausbauen und bei großen Events wieder voll abrufen kann. Vom Spielaufbau her und vor allem von der Schlaghärte wird es vielleicht dem gebürtigen Ukrainer vorbehalten sein, irgendwann diesen ganz großen Sieg einzufahren.

Spätestens dann wird er trotz bereits vorhandener Olympiamedaille auch vom Ansehen her zum oben genannten Trio um Schöler, Roßkopf und Boll aufsteigen - und der Radiomoderator auf WDR 2 wird - anders als gestern - fälschlicherweise nicht mehr davon ausgehen, dass Boll noch die deutsche Nummer eins ist - auch wenn er das in Düsseldorf gewesen ist.

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